Mobilität als Kunst – im französischen Montpellier ist die Tram weit mehr als ein Mittel zur Fortbewegung. Und wahnsinnig erfolgreich.
Die Tram von Montpellier ist jung. Im Juni 2000 startete die Linie 1 der modernen Tram von Montpellier. Die historische Straßenbahn fuhr 1949 zum letzten Mal. 2006 folgte Linie 2, 2012 die Linien 3 und 4. Seit 2016 fährt die Linie 4 als Ringlinie um die Innenstadt.
In nur 16 Jahren wurde ein 58 km langes Netz gebaut.
Wachstumsmotor Tram
Der Bau der neuen Tram hat Montpellier finanziell stark gefordert, die Stadt wurde dafür aber reich belohnt. Vor dem Tram-Zeitalter waren 29 Mio. Menschen im Jahr mit dem ÖPNV in der Stadt unterwegs. 2016 waren es bereits 83 Mio. In 16 Jahren nahezu verdreifacht! Die Tram trägt daran den Löwenanteil von 80 %.
2016 wohnten etwa 280.000 Menschen in der Stadt, die damit etwas größer war als Kiel – Vergleiche drängen sich also auf. Der ÖPNV der beiden Städte in Zahlen: 2016 fuhren die Trams in Montpellier 5,48 Mio. km im Jahr, die Busse 7,91 Mio. km – zusammen 13,39 Mio. km.
Und Kiel? Bei uns fahren die Busse jährlich 11,6 Mio. km, werden aber von nur rund 32 Mio. Fahrgästen im Jahr genutzt – vergleichbar mit Montpellier vor dem Bau der Tram.
In Montpellier fahren Busse und Bahnen also nur 15 % mehr Kilometer als in Kiel – befördern aber 160 % mehr Fahrgäste! Das zeigt, wie effizient, wie ökonomisch die Tram ist und wie sehr sie Fahrgäste anzieht.
Anders als mit der Tram lässt sich das enorme Wachstum nicht erklären. Montpellier ist in der Zeit gewachsen, aber nur um 26 %, nicht 186 %. 2014 gab es eine Tarifreform, mit der die Preise deutlich gesenkt wurden. Eine Erfolgskontrolle der Reform hat aber gezeigt: Nur ein kleiner Teil des Wachstums ab 2014 wurde durch die günstigen Preise ausgelöst.
Der sanfte Riese
Die Linie 1 in Montpellier zeigt, warum die Tram so faszinierend ist. Schon 2005, fünf Jahre nach Eröffnung, wurde sie werktags von 124.000 Fahrgästen genutzt. In Kiel sind es etwa 100.000 Fahrgäste – in allen Bussen zusammen.
Diese eine Linie spielt mit dem Theodor-Heuss-Ring in einer Liga: Auf Kiels am stärksten belasteter Straße sind werktags etwas über 100.000 Pkw unterwegs (oder etwa 130.000 Menschen).
Aber wer kann sich vorstellen, am Rande des Theodor-Heuss-Rings shoppen zu gehen? Einen Kaffee auf einem Platz zu trinken, an dem soviel Verkehr unterwegs ist? Oder auf der Fahrbahn Rasen wachsen zu lassen, eine Allee entlang der Straße zu pflanzen?
Am Place de la Comedie ist es möglich. Hier fahren die Linien 1 und 2, die täglich von bald 170.000 Menschen genutzt werden – und niemanden stört’s. Sanft rollt hier ein starkes Verkehrsmittel durch die Innenstadt.
Leben kommt in die Stadt
Die Tram wurde mitten durch die Innenstadt geführt, durch teils sehr enge Gassen. Je nach Richtung fahren die Linien deswegen zum Teil durch unterschiedliche Straßen.
Der Mut dazu hat sich aber ausgezahlt, die Innenstadt wird so sehr gut erschlossen.
Die Innenstadt ist so auch viel besser erreichbar. Neun große Parkplätze an Tram-Stationen sollen helfen, den Autoverkehr am Stadtrand einzufangen und auf die Tram umzuleiten. Das funktioniert bereits sehr gut, wie 1 Mio. geparkte Fahrzeuge im Jahr zeigen.
Der Lieferverkehr in der Innenstadt wird überwiegend mit elektrischen Kleintransportern abgewickelt, die in einem innenstadtnahen Depot beladen werden.
Diese Maßnahme und die Tram haben geholfen, die Innenstadt vom Verkehr zu befreien, ohne dass sie schlechter erreichbar ist. Sie ist jetzt viel attraktiver für Fußgänger, was zu einer deutlichen Belebung geführt hat.
Rollende Wahrzeichen
Augenfällig ist das Design der Trams. Die Linie 1 trägt ein tiefes Azurblau und erinnert an Mittelmeer und wolkenlosen Himmel. Geschmückt wird sie von den Silhouetten vieler Schwalben – durch die Region fliegen jährlich zahlreiche Zugvögel auf ihrem Weg zwischen Europa und Afrika.
Linie 2 zeigt sich freundlich blumig, mit kräftigen Rot- und Gelbtönen. Die Linie fährt auch längere Strecken über Land und passt so in die Landschaft. Die Farben sind aber auch die der Region Okzitanien. Das Design ist also eine Anspielung auf Landschaft und Heimat.
Die Linie 3 ist mit am farbenfrohesten. Seesterne, Muscheln – allerhand Meerestiere zieren das Fahrzeug. Die Linie 4 strahlt golden wie die Sonne und zeigt opulenten Reichtum: kunstvolle Mosaike, Perlen und Juwelen.
Man darf gespannt sein, wie Linie 5 daherkommen wird.
Erfolg spricht sich rum. Die New York Times über die Tram Montpelliers:
The city may be installing what is Europe’s sexiest tram system…Think of it as France’s longest fashion runway.
New York Times, 06.01.2012
Nun liegt Schönheit im Auge des Betrachters und die französische Neigung zur großen Geste ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Das Beispiel Montpellier zeigt aber, was eine Tram sein kann (und muss): Das attraktive Gesicht eines ÖPNV, der zur Identität der Stadt gehört.
Denn unser heute lieblos gestalteter ÖPNV lädt nicht zum Einsteigen ein, aber auch nicht dazu, dass die Menschen Verantwortung für ihn übernehmen. In Montpellier kann man das beobachten – die hochwertig gestalteten Haltestellen und Fahrzeuge werden deutlich besser behandelt.
Schönheit hat also einen messbaren Wert. Umso mehr in Zeiten, in denen sich hochqualifiziertes Personal aussuchen kann, wo es arbeiten will. Eine lebenswerte, schöne Stadt ist ein starker Standortfaktor im Wettbewerb der Städte.
Und es geht weiter
Das war der Stand bis 2016, hier hört die Geschichte aber nicht auf. 2025 soll Linie 5 an den Start gehen und weitere 60.000 Fahrgäste bringen.
Mobilitätswende ist auch in Frankreich mehr als ÖPNV. Das Radwegenetz wir laufend ausgebaut, dazu kommen 18 Fahrradgaragen und ein Leihradsystem mit 1200 Rädern.
Alles greift ineinander – nur so kann die Mobilitätswende gelingen!
Quelle:
Thomas Naumann: Mobilität als Gesamtkunstwerk – Montpellier und seine Straßenbahn, Stadtverkehr 6/2019, S. 29